Steinkohle war in Deutschland bis in die 1950er Jahre nicht nur Hauptenergieträger, sondern auch der wichtigste Grundstoff der chemischen Industrie. Dann verlor sie diese Rolle recht schnell an das Erdöl, das nun in großen Mengen günstig importiert werden konnte und einfacher zu verarbeiten war.
In den 1920er Jahren entwickelte der Ruhrbergbau zahlreiche kohlechemische Verfahren zur Betriebsreife. Von besonderem Interesse war die Gewinnung von Wasserstoff aus Kokereigas zur Herstellung von Ammoniak als Basis für stickstoffhaltige Düngemittel.
1929 entschloss sich die staatseigene Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerksgesellschaft (VEBA) zum Bau einer dritten Stickstoffanlage. Als Standort wurde die unternehmenseigene Zeche Scholven im erst kurz zuvor eingemeindeten, gleichnamigen Gelsenkirchener Stadtteil ausgewählt. Hier produzierte eine neue Zentralkokerei die benötigten Gasmengen. Nach zwei Jahren Bauzeit ging die Anlage 1931 in Betrieb.
Mitte der 1930er Jahre änderte sich die Situation. Die Nationalsozialisten planten, Deutschland innerhalb von vier Jahren kriegsfähig zu machen. Eine herausragende Bedeutung besaß die Unabhängigkeit von Lieferungen aus dem Ausland durch die Produktion von ‚Ersatzstoffen‘. Angesichts nur geringer Erdölvorkommen galt das vor allem für den Bereich der Kraftstoffe. Diese sollten von nun an bevorzugt aus Steinkohle erzeugt werden.
Entsprechende Verfahren waren bekannt, und so entschloss sich die VEBA-Tochter Bergwerksgesellschaft Hibernia AG 1935 zum Umbau des Stickstoffwerkes in eine Hydrieranlage zur ‚Verflüssigung‘ von Kohle. Gleichzeitig wurde die Hydrierwerk Scholven AG gegründet. Das erste Steinkohlenbenzin floss 1936. Kurz darauf errichtete auch die Gelsenkirchener Bergwerks-AG in Gelsenkirchen-Horst unweit der Zeche Nordstern eine eigene Anlage. Das Werk der Gelsenberg Benzin AG ging 1939 in Betrieb.
Gelsenkirchen wurde damit zum wichtigsten Standort der Kraftstoffproduktion auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik. Erst im Sommer 1944 erfolgte nach umfangreichen Kriegszerstörungen die Stilllegung der beiden Hydrierwerke. Wie überall in der deutschen Wirtschaft mussten während des Zweiten Weltkriegs sowohl in Scholven als auch in Horst tausende Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Viele starben dabei.
Im April 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Gelsenkirchen nach der Besetzung durch US-amerikanische Truppen. In ganz Deutschland durften Unternehmen der Rüstungsindustrie nicht produzieren. Eine Wiederaufnahme der Erzeugung oder die Umstellung auf die Friedenswirtschaft erforderte die Genehmigung der Militärbehörden, die sogenannte ‚permits‘ ausstellten.
Die beiden Hydrierwerke in Horst und Scholven standen nun für mehrere Jahre weitgehend still. Dies lag vor allem an den umfangreichen Kriegszerstörungen. Besonders betroffen war Scholven, wo Teile der Anlagen vollständig abgerissen werden mussten. Eine Wiederaufnahme der technisch aufwendigen und äußerst teuren Kohlehydrierung war in Friedenszeiten keine Option. Aber auch für eine Umstellung der Anlagen auf die Verarbeitung von Erdöl bestand zunächst kein Bedarf.
Erst 1948 änderte sich die Situation. Die Gelsenberg Benzin AG erhielt die Genehmigung zum Aufbau von Raffineriekapazitäten. Nach umfangreichen Bauarbeiten gingen die ersten Anlagen im März 1949 in Betrieb. Völlig überraschend beschlossen die alliierten Behörden jedoch bereits im April den Abbau der meisten westdeutschen Hydrierwerke. Davon betroffen waren auch die beiden Gelsenkirchener Standorte.
Ende November 1949 regelte die Bundesregierung dann die Beziehungen der kurz zuvor gegründeten Bundesrepublik zu den Alliierten. Im Petersberger Abkommen wurde unter anderem ein weitgehender Abbaustopp vereinbart. Im Februar 1950 erhielt die Raffinerie in Horst ihre endgültige Betriebserlaubnis und im April 1951 schließlich auch die Raffinerie in Scholven, die nun zur neuen Scholven-Chemie AG gehörte. Mit der uneingeschränkten Genehmigung zur Rohölverarbeitung waren die Weichen für die Zukunft der Werke gestellt worden.
In den 1950er Jahren kam es in der Bundesrepublik zu einem kaum für möglich gehaltenen Wirtschaftsaufschwung. Der Wiederaufbau der zerstörten Städte und Industrieanlagen sowie großzügige Auslandskredite schoben die Entwicklung an. Das günstige Investitionsklima sorgte für eine rasche Ausweitung der Produktionskapazitäten. Zahlreiche Arbeitsplätze entstanden und die Löhne stiegen. Innerhalb von zehn Jahren verdreifachte sich das Bruttosozialprodukt und es herrschte Vollbeschäftigung. Bereits ab 1955 machte der Begriff des Wirtschaftswunders die Runde.
Die soziale Marktwirtschaft garantierte Wohlstand, Stabilität und Sicherheit. Man konnte sich endlich wieder etwas leisten. Bequemlichkeit und Genuss wurden zu wichtigen Kennzeichen der aufstrebenden Konsumgesellschaft.
Das Erdöl und seine Verarbeitungsprodukte entsprachen perfekt den Anforderungen der Zeit. Der Verbrauch von Öl wurde zum Zeichen für Modernität – als Kunstfaser in der Kleidung, in der Ölheizung oder im privaten Kraftfahrzeug, das schnell zum wichtigsten Statussymbol aufstieg. Der Pkw-Bestand verzehnfachte sich zwischen 1950 und 1960 auf rund fünf Millionen und erreichte 1966 fast zehn Millionen.
Eine ähnlich rasante Entwicklung verzeichnete der Mineralölverbrauch mit jährlichen Steigerungsraten von bis zu 25 Prozent. Wurden 1950 gerade vier Millionen Tonnen Mineralöl verbraucht, waren es 1966 fast 80 Millionen Tonnen. In diesem Jahr überflügelte das Öl erstmals die Steinkohle als wichtigster Energieträger.
Parallel dazu begann der Ausbau der bestehenden und die Errichtung neuer Raffinerien. Auch die Kapazitäten der beiden Werke in Scholven und Horst wurden in mehreren Schritten erweitert und durch neue Verarbeitungsanlagen ergänzt. Nach Hamburg war Gelsenkirchen 1955 als auch 1966 der wichtigste Raffineriestandort. Gleichzeitig gilt die Raffinerie der Gelsenberg Benzin AG als die größte in der Bundesrepublik.
In den 1950er Jahren hatte der Produktionsschwerpunkt der Raffinerien in Scholven und Horst auf der Kraftstoffproduktion gelegen. In Scholven waren außerdem Düngemittel erzeugt worden.
Ab Ende der 1950er Jahre führte die anziehende Nachfrage nach Kunststoffen zum Bau zahlreicher Produktionsanlagen in diesem Bereich. Scholven nahm 1959 die Erzeugung von Polyethylen aus Kokereigas auf und erweiterte die Kapazitäten in den folgenden Jahren mehrmals. Polyethylen ist heute mit einem Anteil von fast 40 Prozent der weltweit am meisten genutzte Kunststoff. 1965 folgte die Erzeugung von Polypropylen, dem zweitwichtigsten Standardkunststoff. Dazu kamen infolge des Niedergangs der Kokereiwirtschaft im Rahmen der Kohlekrise zahlreiche Anlagen zur Erzeugung von Einsatzstoffen auf Erdölbasis, die auch für weitere chemische Grundstoffe verwendet wurden.
Auch die Raffinerie in Horst wandte sich in den 1960er Jahren verstärkt der Petrochemie zu, jedoch mit anderer Ausrichtung. Von besonderer Bedeutung waren die Aromaten, die ebenfalls in der Kunststoffproduktion verwendet werden, aber auch als Lösungsmittel sowie in Farben und Waschmitteln zum Einsatz kommen. Mit der zunehmenden Verarbeitung von Produktionsrückständen zu Kraftstoffen und sonstigen Nebenprodukten verfügten die Raffinerien über einen weitgehend geschlossenen Erzeugungskreislauf. Beide arbeiteten eng mit den benachbarten Chemischen Werken Hüls in Marl zusammen. 1969 überstieg der Chemieumsatz in Scholven erstmals den Mineralölumsatz – ein deutliches Zeichen für den Wandel.
Auch bei der Unternehmensorganisation kam es nun zu Veränderungen. Infolge der Gründung der Ruhrkohle AG wurde die Scholven Chemie AG 1970 in den Veba-Konzern integriert und in Veba-Chemie AG umbenannt. 1975 übernahm die Veba schließlich die Gelsenberg AG, sodass die beiden Raffinerien nach 40 Jahren getrennter Existenz erstmals unter dem Dach einer gemeinsamen Muttergesellschaft arbeiteten.
1978 wurden die Erdöl- und Chemieaktivitäten des Veba-Konzerns neu geordnet. Die Chemischen Werke Hüls übernahmen Teile des Chemiesektors, sodass die Raffinerien sich nun stärker auf die Kraftstoffproduktion konzentrierten, ohne aber die anderen Bereiche vollständig aufzugeben. Die neue Unternehmensstruktur spiegelte sich auch in einem neuen Namen wider: aus der Veba-Chemie AG wurde die Veba Oel AG.
1973 endete mit der ersten Ölkrise der Boom des billigen Erdöls. Die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) reduzierte ihre Fördermengen, sodass sich der Ölpreis innerhalb kurzer Zeit vervierfachte. In den mittlerweile von dem Energieträger Erdöl abhängigen westlichen Industrienationen verschlechterte diese Maßnahme die ohnehin schon schwierige Wirtschaftslage. Erstmals in der Nachkriegszeit stiegen in Deutschland die Arbeitslosenzahlen. Die durch die Revolution im Iran 1979 ausgelöste zweite Ölkrise führte schließlich zur bis dahin schärfsten Rezession.
In den Gelsenkirchener Raffinerien waren die Folgen unmittelbar spürbar. Die Auslastung der Anlagen fiel auf 65 Prozent und es musste zwischenzeitlich Kurzarbeit eingeführt werden. Außerdem wurden nahezu alle Modernisierungs- und Erweiterungsinvestitionen vorerst zurückgestellt. Immerhin überlebten die beiden Werke diese existenzbedrohende Krise anders als zahlreiche Konkurrenten. In den 1980er Jahren wurden in der Bundesrepublik zwölf von 30 Raffinerien endgültig stillgelegt.
Dabei besaß die Veba Oel im Vergleich zu den großen internationalen Ölkonzernen einen bedeutenden Nachteil. Sie förderte vergleichsweise geringe Mengen Rohöl und musste einen erheblichen Teil ihres Bedarfs einkaufen, sodass die Preisentwicklung sich bei ihr besonders negativ auswirkte.
1982 vereinbarte die Veba Oel daher eine Kooperation mit der staatlichen venezolanischen Ölgesellschaft Petroleós de Venezuela SA (PdVSA), die von nun an einen bedeutenden Teil des Öls lieferte. Die Raffinerien wurden in die neu gegründete Ruhr Oel GmbH eingebracht, an der beide Partner jeweils zur Hälfte beteiligt waren.
In den folgenden Jahren stabilisierte sich die Marktsituation durch steigende Ölpreise und die verringerten Raffineriekapazitäten. Die Ruhr Oel erweiterte und modernisierte zunächst in Scholven zahlreiche Anlagen, auch um sie der sich ändernden Nachfrage anzupassen. Anfang der 1990er Jahre folgte eine umfassende Umstrukturierung in Horst. Neben hochwertigen Vergaserkraftstoffen erzeugten die Anlagen nun auch weitere Produkte wie Heizgas und Flüssiggas. Ein wichtiges Standbein bildeten weiterhin die Chemiegrundstoffe.
Ende der 1990er Jahre zeichneten sich in der deutschen Energiewirtschaft umfangreiche Neuordnungen ab. Das wohl wichtigste Ergebnis dieser Entwicklungen war die Gründung der E.ON AG durch den Zusammenschluss der Veba AG und der Viag AG. Da Mineralöl nicht mehr zum künftigen Kerngeschäft des neuen Konzerns gehörte, suchte E.ON nach einem Käufer für die Veba Oel.
Bis 2002 wurde das Unternehmen in zwei Schritten an die Deutsche BP AG abgegeben, sodass auch die zur Veba Oel gehörende Aral AG & Co. KG den Besitzer wechselte. Im Gegenzug erhielt die E.ON von bp unter anderem Anteile an der Ruhrgas AG. Als neuer Partner der Petroleós de Venezuela SA (PdVSA) beteiligte sich bp wie zuvor die Veba Oel zur Hälfte an der Ruhr Oel GmbH. Die 1999 als eigenständiger Raffineriegeschäftsbereich gegründete Veba Oel Verarbeitungs-GmbH wurde nun in BP Gelsenkirchen umbenannt.
Bereits 1997 war die Kunststofferzeugung an den niederländischen Chemiekonzern DSM NV verkauft worden, der in Scholven zwei neue Anlagen für Polyethylen und Polypropylen errichtete. 2002 verkaufte DSM den gesamten Komplex an das saudi-arabische Unternehmen SABIC, das die Anlagen seither betreibt.
2010 übernahm der russische Ölkonzern Rosneft den Ruhr Oel-Anteil von PdVSA. Seit 2017 ist die BP Europa SE alleinige Eigentümerin des Unternehmens.
Die Werksentwicklung der vergangenen beiden Jahrzehnte stand vor allem unter dem Zeichen des Umweltschutzes. Umfangreiche Investitionen in die Anlagen reduzierten die Emissionen der Raffinerien an Stickoxiden, Kohlendioxid und Staub deutlich. Äußerst schwefelarme Heizöle und nahezu schwefelfreie Kraftstoffe sorgen in Verbindung mit Biobestandteilen für eine weitere Umweltentlastung.
Heute sind die Raffinerien mit 1.900 Mitarbeitern der größte industrielle Arbeitgeber Gelsenkirchens. Nach Köln/Wesseling ist die Stadt der zweitgrößte Raffineriestandort der Bundesrepublik. Mit einem Anteil von rund 35 Prozent am Primärenergieverbrauch ist Mineralöl weiterhin der mit Abstand wichtigste Energieträger in Deutschland. Etwa 20 Prozent der in der Chemieindustrie hergestellten Produkte basieren auf Erdöl, im Bereich der organischen Chemie sind es 75 Prozent.
Die bp Gruppe hat ihr Bekenntnis zum Standort zuletzt mit der Ankündigung eines Zwei-Milliarden-Euro-Investitionsprogrammes untermauert. Ein bedeutender Teil des Geldes fließt in eine effizientere Energieversorgung, besseren Umweltschutz und Digitalisierung. Der Konzern ist vom Potenzial des Standortes überzeugt:
Dies passt sehr gut zu den Herausforderungen der heutigen Zeit: zum einen immer mehr Energie zu benötigen und zum zweiten die vorhandene Energie immer effizienter und damit umweltschonender zu nutzen. Die bp Gruppe stellt sich dieser doppelten Herausforderung.